Die wahre Schicksalswahl für Europa

3 min Lesedauer 05.05.2017
Pärchen mittleren Alters liest Zeitung im Bett mit Hund

Das Wort Schicksalswahl hatte in den letzten Jahren Hochkonjunktur in Europa. Etliche Wahlen in Griechenland, aber auch in Portugal, Spanien und Italien, das Brexit-Referendum vom letzten Jahr und dann das aktuelle Superwahljahr. Immer wieder sind nationale – und manchmal sogar regionale Wahlen – sogenannte Schicksalswahlen für Europa. Im Vorfeld hieß es dann gerne, dass die Wahlen richtungsweisend für Europa und die Währungsunion seien. Interessanterweise hat sich die Richtung Europas trotz unterschiedlichster Wahlergebnisse danach nie schlagartig verändert. Was noch nicht ist, kann allerdings schneller werden als man denkt. Sicherlich, da Europa am kommenden Sonntag seine erste wahre Schicksalswahl bekommt.

Nein, natürlich wird sich das Leben der Europäer auch nach der zweiten Runde der französischen Präsidentschaftswahl am Sonntag nicht schlagartig ändern. Das Leben geht auch am Montag weiter. Allerdings war der Begriff “Schicksalswahl” noch nie treffender als jetzt. Es handelt sich nicht mehr um eine Wahl oder ein Referendum in einem Land, das schon jahrelang versucht, die europäische Integration so oft wie möglich zu unterlaufen. Es handelt sich auch nicht um ein kleines Land am Rande der Währungsunion. Es geht hier um die zweitgrößte Volkswirtschaft Europas und der Eurozone. Ein Gründungsmitglied der EU, ein Land mit dem Euro als Währung. Und in diesem Land stehen sich am Sonntag zwei komplett unterschiedliche Visionen für Europa und den Euro gegenüber. Marine Le Pen befürwortet einen Frexit, oder aktuell in leicht abgeschwächter Form immerhin noch eine Parallelwährung, während Emmanuel Macron für mehr Integration der Währungsunion und enge Zusammenarbeit mit Deutschland steht. Unterschiedlicher geht es kaum.

Die Zusammenarbeit mit dem nationalen Parlament wird beiden Kandidaten im Falle eines Wahlsieges die ganz scharfen Ecken ihrer jeweiligen Politik schon abschleifen. Spätestens nach dem Rausch der Wahlnacht folgt sehr schnell der Kater namens „Realpolitik“. Trotz allem hieße ein Erfolg Le Pens wohl große Unsicherheit und Turbulenzen an den Finanzmärkten, wirtschaftliche und politische Abschottung von Europa und ein extremistisches Abenteuer, mit unklarem Ausgang. Ein Sieg Le Pens ist nicht automatisch das Ende des Euros oder Europas, aber die europäische Zusammenarbeit (auch bei den Brexit-Verhandlungen) würde wohl auf ein Minimum reduziert werden. Und Stillstand heißt in diesem Falle Rückschritt. Ein Erfolg Macrons wäre nicht der Anfang eines Paradieses europäischer Idealisten, sondern harte Arbeit. Vor allem harte Arbeit über verkrustete Parteigrenzen hinweg, um die französische Konjunktur wieder schnell auf Vordermann zu bringen. Mit seinen Ideen für Europa und die Währungsunion wird Macron sowieso bis zur deutschen Bundestagswahl warten müssen. Danach könnte eine wiederbelebte deutsch-französische Achse Europa und der Eurozone die Anschubhilfe bieten, die nötig ist, um die aktuelle positive konjunkturelle Entwicklung für eine weitere strukturelle Verstärkung der Währungsunion zu nutzen.

Die positive oder negative Aufregung an den Finanzmärkten in den Tagen nach der französischen Präsidentschaftswahl ist mit Vorsicht zu genießen. Realpolitik wird beiden möglichen neuen Präsidenten noch sehr viel abverlangen. Langfristig bleibt die Wahl allerdings die wahre und wichtigste Schicksalswahl für Europa.